durchgang übergang ausblick

Ausstellung im Jahr 2006

Begleittext Dr. Arnulf Stößel

Eberhard Wollner zeigt uns einen Zyklus von Aquarellen, die ein gemeinsames, formal und farblich variiertes Grundmotiv kennzeichnet. Er betitelt den Zyklus mit „durchgang-übergang-ausblick”.


Wenn ich den hier vertretenen formalen Ansatz als konzeptuell bezeichne, bedarf dies einer näheren Begründung: Will Form nicht das Augenscheinliche abbilden, sondern etwas mit den Augen nicht direkt Wahrnehmbares, muss diese Form konzipiert werden. Die konzeptuelle Form ist ihrem Wesen nach zumindest tendentiell abstrakt und kann daher nur über die Frage nach Bedeutung erschlossen und verstanden werden.


An diesem Punkt erscheint es angebracht, einen kurzen Blick auf die Anfänge der klassischen Moderne zu werfen, als deren Wegbereiter zweifelsohne Paul Cezanne gelten kann. Als erstes verlässt Cezanne die strengen Grenzen der wissenschaftlichen Perspektive und begibt sich auf der Grundlage eines veränderten Wirklichkeitsbegriffes in andere, allerdings als solche noch kaum wahrnehmbare Darstellungsräume. Das hier angelegte Prinzip der Konzeptualität von Form erlebt seinen Durchbruch mit den Arbeiten Pablo Picassos und anderer, im Falle Picassos deutlich mit den berühmten "Demoiselles d´Avignon." Jenseits akademischer Sehgewohnheiten entsteht ein vorher nicht genutzter, wir könnten sagen imaginärer Raum, in dem sich andere Aspekte der Wirklichkeit sichtbar machen lassen.


Auf Grundlage der konzeptuellen Form zeigt Kunst nun das, was wir mit unseren Augen nicht unmittelbar sehen können. Dieser Ansatz gilt für nahezu alle Vertreter der klassischen Moderne. Er führt den Betrachter stets von Neuem und unweigerlich zur Frage nach Bedeutung. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass außereuropäische Kunst, insbesondere die sogenannte Stammeskunst, schon immer darauf verzichtet hat, das Seiende nach Augenschein abzubilden. Diese Kunst war mit ihrem Ansatz stets konzeptuell und konnte daher- auch im Rahmen der jeweiligen Kultur- nur nach dem Prinzip Bedeutung verstanden werden. Gerade aus diesem Grund wurden viele Wegbereiter der klassischen Moderne nachhaltig von Stammeskunst beeinflusst.


Auch das in Eberhard Wollners Aquarellen erkennbare, von ihm „durchgang-übergang-ausblick” betitelte Grundmotiv- seinem Wesen nach zweifelsohne konzeptuell- lässt nach Bedeutung fragen. Sehen wir uns daher die Formensprache des Grundmotivs näher an: Der Betrachter nähert sich einer, meist in der Bildmitte angesiedelten, rektangulären Öffnung. Diese ist umgeben von verschiedenen, zuweilen perspektivisch, zuweilen flächig angeordneten Formelementen in überwiegend vertikaler, aber auch horizontaler Ausrichtung. Es entsteht der Eindruck einer Türöffnung, eines drapierten Durchganges, von dem man- einmal ins Bild eingetreten- nicht ahnt, was dahinter folgen könnte. Die Farbgebung der Aquarelle variiert in einem Spektrum zwischen dunklen, ja düsteren und helleren, teils freudig bunten Kombinationen.


In einem Roman des frankolibanesischen Autors Amin Maalouf schreibt der Mönch Elias über den Menschen Tanios: "Er war es, der später den Beinamen Kischk erhielt und das Schicksal erlitt, von dem wir alle wissen. Sein ganzes Leben war nichts als eine Abfolge von Passagen." Denken wir daran, dass Durchgänge- wahlweise auch Übergänge oder Passagen- zu den zentralen Motiven im Lebenslauf des menschlichen Individuums gehören- von vielen nicht wahrgenommen, geschweige denn bewusst reflektiert. Die Lebensspanne ist gezeichnet von Brüchen, die neue Perspektiven provozieren, von Brüchen, die sich als Übergänge ins Ungewisse erweisen, von Brüchen schließlich, die mit persönlichem Scheitern einhergehen; Brüche, die aber gerade dadurch die Möglichkeit des Neuanfangs in den Raum stellen, Brüche die geeignet sind, neue Hoffnung zu erwecken. Die ganze Vielfalt dieser Passagen, Brüche, Übergänge lässt sich mit der ihnen verbundenen pessimistischen oder optimistischen Emotionalität aus den Aquarellen Eberhard Wollners herauslesen.


All dies ist unserer Kultur erschreckend fremd geworden. Zwar gibt es noch einige kirchliche Feste, die Durchgänge bzw. Übergänge markieren, so z.B. Taufe, Konfirmation, Kommunion, Firmung, Hochzeit, etc. Auch die Beförderung von Staatsbeamten oder Militärs könnte in diesem Zusammenhang gedeutet werden.


Deutlich hingegen zeichnet sich das Motiv des Durchganges in den sogenannten Stammeskulturen ab, die es- im Gegensatz zu uns- als existentielle Notwendigkeit befinden und daher bewusst ritualisieren. Man denke etwa an die komplexen Initiationsriten der Männerbünde in den westafrikanischen Regenwaldgebieten. Hier werden Knaben, die sich während eines monatelangen Aufenthalts im Buschlager diversen Zeremonien unterziehen müssen, am Ende von einem Waldgeist verschlungen und wieder ausgespien. Erst dann, und mit dem Austritt aus dem Buschlager, sind sie heiratsfähige junge Männer. Nicht weniger dramatisch gestalten sich die Übergangsriten für Männer bei den Konso in Äthiopien oder bei den Masai Kenias und Tansanias. Für den Einzelnen enden die rituellen Durchgänge zuweilen erst im Alter von ungefähr fünfzig Jahren- gefolgt vom letzten Übergang, dem Tod.


Durchgänge respektive Übergänge sind also ein nahezu weltweit gültiges anthropologisches Prinzip- ein Prinzip, das nur in seiner Ritualisierung sichtbar wird. Entfällt die Ritualisierung, verlagert sich das Prinzip in den Bereich des allgemein nicht Sichtbaren und kann nur vom Einzelnen individuell rekonstruiert werden. Genau dies aber kennzeichnet seit Geraumem unsere Kultur.


Eberhard Wollner nun hat das Verlorene wieder sichtbar gemacht. Er hat ein anthropologisches Grundprinzip mit den Mitteln der konzeptuellen Form in die Sphäre des allgemein Wahrnehmbaren zurückgeholt.

Schauen wir und seien wir dankbar, wieder sehen zu können.